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Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Kinder genießen in allen Kulturen der Welt einen besonderen Status. Sie sichern die Zukunft. Sie sind ihre schwächsten Mitglieder und verdienen besonderen Schutz. Es gibt einen Ort in dieser Welt, an dem wird Kindern tagtäglich ihre Kindheit gestohlen.
In den belagerten Gebieten Syriens stehen Hunderttausende Menschen unvorstellbare Todesängste aus. Gesundheitssystem und Wirtschaft sind kollabiert. Die Menschen benötigen dringend sauberes Wasser, Nahrungsmittel und psychologische Betreuung. An Schulunterricht ist in vielen Teilen des Landes nicht zu denken. Die Menschen werden systematisch ausgehungert und aus der Luft mit Bomben attackiert. Alle zwei Stunden wird ein Kind mutwillig getötet. Mehr als 12.000 Kinder wurden bereits auf bestialische Art ermordet. Sollen wir als Gesellschaft diesen Verbrechen tatenlos zusehen?

Angesichts der Krise kann und muss die syrische Zivilbevölkerung davon ausgehen können, dass die Weltgemeinschaft mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe eilt. Für mich persönlich war der 11. März 2014 der Tag, an dem mich der Weckruf ereilte. An diesem Tag erschien der UNICEF-Bericht „Unter Belagerung: Die verheerenden Auswirkungen von drei Jahren Konflikt in Syrien auf die Kinder“. Die darin geschilderten Verbrechen waren es, die mich in meiner Rolle als neues Mitglied der Bundesregierung besonders betroffen machten. Dem unermüdlichen Einsatz meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es zu verdanken, dass die Bundesregierung sich mit dem syrischen Drama nicht länger abfinden wird, sondern den Schutz von Kinderrechten international durchsetzt.
Bereits eine Woche nach Veröffentlichung des Berichts verständigte sich die 199. Sitzung der Innenministerkonferenz der Länder (IMK) am 24. März 2014 in Bonn darauf, ein Kontingent für die Aufnahme syrischer Kinder zu beschliessen. Das verdienstvolle Engagement von Michael Neumann, Boris Pistorius und Ralf Jäger machte den Weg für die unbürokratische Einreise schutzbedürftiger Kinder frei. Keine zwei Wochen später passierte der entsprechende Gesetzesentwurf den Bundestag. Im Außenministerium wurde ein Krisenstab eingerichtet, der mit Vertretern der Assad-Regierung verhandelte. Manchmal muss man dem Teufel die Hand reichen, um das Leben anderer zu retten. Am Ende stand die pauschale Duldung von Transporten schutzbedürftiger Kinder unter strengen Auflagen. Unter besonders gefährdeten Kindern versteht die Bundesregierung Minderjährige, deren Eltern als Oppositionelle, politisch Verfolgte bzw. Dissidenten inhaftiert sind oder waren, sowie Waisenkinder ohne Eltern und insbesondere auch Knaben älteren Jahrgangs, denen mit der Volljährigkeit Verhaftung drohen könnte.

Mit der Teilhabe an der Gesellschaft geht die Verpflichtung einher, denjenigen zu helfen, die nicht so viel Glück haben. Im Namen der Bundesregierung – als Ministerin, Mutter und Mensch – bitte ich Sie um Ihre Mithilfe. Schenken Sie Zuversicht und vorübergehend ein neues Zuhause. Die schutzbedürftigen Kinder Syriens gehen uns alle an. Unsere Untätigkeit hat erst den Weg zu der Gewaltspirale geebnet, unter der die Bevölkerung heute leidet. Wir gehören alle zu derselben Familie namens Menschheit. Machen wir sie zu einer großen Pflegefamilie.
55.000 Kinder – 1 Kinderschicksal aus 100, die unter dem Konflikt in Syrien leiden – reisen unbegleitet in ein ihnen völlig unbekanntes Land. Sie sind durch dreieinhalb Tausend Kilometer und durch einen schrecklichen Krieg von ihren Familien getrennt. Manche von ihnen wurden bedroht, versteckt, verfolgt, verletzt oder gefoltert. Diese Erfahrungen werden bleiben, genau wie die Sorge, ob Eltern und Geschwister überleben.
Als Pflegefamilien kommt Ihnen die Rolle zu, den Kindern die Brücke in eine glücklichere Zukunft zu bauen. Eine Familie bietet einen überschaubaren Alltagsrahmen: vertraute Personen, strukturierte Tagesabläufe, gemeinsame Mahlzeiten, Trost bei Kummer, kindgerechte Freizeitgestaltung und beruhigendes Zubettbringen. Teilen Sie ein Stück Lebensfreude. Eine Kissenschlacht am Sonntagmorgen kann glücklich machen. Geben Sie den Kindern das Gefühl, dass sie es wert sind, gepflegt zu werden. Das Wichtigste für die Gastkinder aber ist das Vertrauen in die Sicherheit ihrer Umgebung, insbesondere das Bewusstsein, dass sie jederzeit Schutz und Zuflucht suchen können.

Junge Menschen benötigen besondere Rahmenbedingungen, um gesund und glücklich aufzuwachsen. Dazu gehört auch der Schutz vor Gefährdungen für ihr geistiges, seelisches und körperliches Wohl. Der Bundesgerichtshof hat für die Kindswohlgefährdung drei Kriterien formuliert: Die Gefährdung für das Kind muss gegenwärtig gegeben sein. Die (künftige) Schädigung des Kindes muss erheblich sein. Die Schädigung muss sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lassen.
Alle drei Kriterien sind im Syrienkonflikt erfüllt. Die Mütter und Väter Syriens verdienen unsere Bewunderung dafür, wie mutig sie sind, sich von ihren Kindern zu trennen. Es sind nicht die Frauen die besseren Mütter, die ihre Kinder nicht von sich lassen, weil sie glauben, allein nicht weiterleben zu können, sondern die Frauen, die ihren Schmerz unterdrücken zum Wohle und Nutzen ihres Kindes. Wir sollten ihnen garantieren, dass sie ihre Kinder nicht ins Ungewisse schicken, sondern in den sicheren Hafen der europäischen Union. Wir sind uns bewusst, dass wir ihre Eltern nicht ersetzen können, aber wir tun unser Bestes, dass sie sich wohlfühlen, um gesund und munter in die Arme ihrer Eltern zurückzukehren.

Wir können nicht allen Kindern helfen. Aber wir können eines aus einhundert vorübergehend bei uns aufnehmen. Denken Sie daran: mit dieser Initiative erreichen wir Kinder, die sich über jeden Funken Hoffnung, Menschlichkeit und Perspektive freuen.
Vor einigen Wochen lernte ich Kurt Gutmann kennen. Kurt Gutmanns Leben wurde durch einen Kindertransport im Juni 1939 gerettet. Nach mehreren Stationen kam er zu einem schottischen Bäcker, der ihn freudig aufnahm und von dem er all die Freundlichkeit erhielt, der er als kleiner Junge so dringend bedurfte. Wir haben die menschliche Pflicht, den Platz dieses Bäckers auszufüllen. Jedes Kind braucht einen Menschen, der es sehr liebt, der ihm Kuchen kaufen und Freude bereiten kann. Die Kinder werden es uns tausendfach zurückgeben.

Ihre

unterschrift schwesig

Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

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