Auf eine der größten Flüchtlingskrisen im „Jahrhundert der Flüchtlinge“ – nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 – reagierten die alliierten Länder, indem sie die Einwanderungsvorschriften und -kontrollen drastisch verschärften. Großbritannien setzte sich in keiner Weise diplomatisch für die Verfolgten ein und führte im Mai die seit 1927 abgeschaffte Visumspflicht wieder ein. Bis Herbst 1938 hatten sich gerade einmal 11.000 deutsche Juden in Großbritannien niedergelassen. Zum Vergleich: bis zum Kriegsausbruch versuchten 500.000 Menschen, nach Großbritannien einzureisen. Chaim Waizman meinte bereits 1936: „The world seemed to be divided into two parts – those places where the Jews could not live, and those where they could not enter.“
Die Möglichkeiten, als jüdischer Flüchtling von einem anderen Land aufgenommen zu werden, waren begrenzt. Tiefpunkt der amerikanischen Flüchtlingsabwehr beispielsweise war das Zurücksenden des Linienschiffes St. Louis mit 906 Flüchtlingen an Bord nach Europa. In zunehmender Not erklärten sich immer weniger Länder bereit, mittellose jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Historikerin Claudia Curio folgert daraus, dass die Aufnahmewilligkeit des Auslands parallel zum Anwachsen des Auswanderungsdrucks in Deutschland abnahm.
Als einzigen – bis heute frenetisch gefeierten – Lichtblick lockert die britische Regierung für zehn Monate ab Dezember 1938 die Einwanderungsbestimmungen und bewilligte in Form von Sammelvisa die Einreise von 9.354 deutschen Kindern und Jugendlichen. Die Besonderheit des Kindertransportes bestehe – so die Historikerin Rebekka Göpfert – darin, „daß seine Visa zu einer Zeit erteilt wurden, zu der in der ganzen Welt, mit wenigen Ausnahmen, die Grenzen für Juden aus Deutschland geschlossen waren.“
In den USA scheiterten die Bemühungen, Kindern die Einreise zu gestatten. Die Stimmen der Kritiker reichen von pseudohumanitärer Besorgtheit – man könne nicht Kinder von ihren Müttern trennen – bis zu unverhohlen inhumanen Äußerungen.
In geradezu atemberaubenden Tempo wurde die Einwanderung der Kinder beschlossen: Zwischen der politischen Entscheidung der britischen Regierung, gefährdete Kinder einreisen zu lassen und der Ankunft des ersten Kindertransports vergehen gerade einmal zwei Wochen. Bertha Bracey hatte zwölf Tage nach der sog. „Reichskristallnacht“ (21.11.1938) den britischen Innenminister Sir Samuel Hoare beim Frühstück über die Verzweiflung der jüdischen Eltern in Deutschland unterrichtet. Ohne Braceys Bericht hätte die britische Regierung es nicht für möglich gehalten, dass Eltern überhaupt bereit sein könnten, ihre Kinder unbegleitet in die Arme von Fremden zu schicken. In seiner Rede vor dem Parlament noch am selben Abend Hoare: „Here is a chance oftaking the young generation of a great people, here is a chance of mitigating tosome extent the terrible suffering of their parents and their friends.“ Die Kinder gelangten in Sonderzügen und Schiffen nach Großbritannien. Kinder aus Prag wurden mit Flugzeugen evakuiert.
Die Sammeltransporte zeichneten sich durch eine beispiellose Hilfsbereitschaft englischer Privatleute aus. In seinem flammenden Radio-Appell sagte der ehemalige Premierminister Stanley Baldwin: „I ask you to come to the aid of victims not of any catastrophe in the natural world, not of earthquake nor of flood nor of famine, but of the explosion of man’s inhumanity to man.“ Einen Monat nach dem ersten Transport lagen bereits 2.500 Verpflichtungserklärungen für die Unterbringung von Kindern vor. 1939 belief sich die Summe aller Spenden, einschließlich privater Bürgschaften und Unterkünfte, bereits auf 2,5 Millionen Pfund. Dennoch kannte der Altruismus der zur Aufnahme bereiten Familien enge Grenzen. Die Pflegeeltern erwarteten, dass das Kind entweder gar keine Familie hatte oder dass seine Eltern bereit wären, ihre elterlichen Rechte aufzugeben, auf jeglichen Kontakt zu verzichten und sich für immer von ihren Kind zu verabschieden. Mit der Vernichtung der Juden im Holocaust wurden die Kindertransporte retrospektiv zu einer Entscheidung über Leben und Tod. Es bleibt die Einsicht: Ein großer Teil der europäischen Juden hätte gerettet werden können, hätten sich nur die möglichen Aufnahmeländer bereit erklärt, Zuflucht zu gewähren.
Die ersten 196 Kinder laufen bereits zwei Wochen nach der politischen Entscheidung in Großbritannien ein.
Die St. Louis wird mit über 900 Flüchtlingen vor Amerika nach Europa zurückgeschickt.
Die größte Flüchtlingskrise vor dem Zweiten Weltkrieg: Menschen versuchen in Massen an Einreisepapiere im Ausland zu gelangen.